Fliegen oder Fallen
eine Harpyie auf Torremor, 503. Schicht der Abyss
Was sich nicht selbst erhalten kann, verdient den Tod. – Dies war einer der Leitsätze auf Torremor, der 503. Subebene der Abyss. Kreezaxi stimmte dieser Philosophie von ganzem Herzen zu. Es war nicht die Aufgabe der Starken, die Schwachen zu schützen, wie ein verwirrter Mensch, der sich einen Paladin genannt hatte, ihr kurz vor seinem Tod hatte erklären wollen. Was für eine absurde Vorstellung. Es war genau umgekehrt: Die Starken nahmen sich von den Schwachen, was sie brauchten. Dazu waren die Schwachen doch da, oder? Die Harpyie Kreezaxi war an diesem Tag spät erwacht, das trübe Licht, das man in Torremor Tag nannte, war schon seit ein paar Stunden immer heller geworden. Sie kletterte auf den Rand ihres Nestes, das sich auf einer hohen Felsenzinne befand und sah sich um, während sie zum Frühstück die Reste eines jungen Perytons verspeiste. Torremor war eine einzige, riesige Ansammlung von Säulen, Felsspitzen, Rampen, Balken, Brücken und Leitern, eine verworrene Ballung natürlicher und künstlich erschaffener Erhebungen, zusammengehalten von Ketten und Seilen, nur selten notdürftig verbunden mit Hängebrücken oder ähnlichen schwankenden Übergängen. Es schien kein fester Grund auf Torremor zu existieren oder aber er war so weit unten, dass noch niemand ihn gefunden hatte. Hier lebten Nabassu, Vrocks, Chasmen und Succubi neben großen Schwärmen von Perytonen, Harpyien, Gargoyles und Vargouillen.
Ergattere, was du kriegen kannst und häufe deine Schätze an. Zerschmettere den Rest. – Dies war eine weitere gute Weisheit, die Kreezaxi gewissenhaft befolgte. Sie hatte schon so manche Reichtümer in ihrem Nest angehäuft, sogar ein paar magische Artefakte. Eigentlich brauchte sie sie nicht wirklich. Aber sie tauschte sie ein. Gegen Nahrung oder Wein, gegen ein paar Bandagen oder Salben, wenn sie verletzt war. Es kamen immer wieder Blutkriegsöldner und Tanar’Ri sowie entweder verrückte oder verirrte Abenteurer in der Nähe ihres Nestes vorbei, die solche Dinge mit sich führten und gegen Gold tauschten. So machte sie sich auch an diesem Tag auf die Suche nach ein paar wertvollen Beutestücken. Sie flog dazu weit hinab, in die tieferen Regionen zwischen den Steinsäulen und künstlich errichteten Türmen. Während der Regenzeit versammelten sich die fliegenartigen Chasme dort unten, um sich zu paaren und ihre Eier in das verrottende Fleisch abgestürzter, auf den Felsnadeln aufgespießter Wesen zu legen. In dieser Zeit summte die ganze Gegend wie ein riesiger Bienenstock. Kreezaxi war froh, dass es jeden Zyklus nur einen Monat dauerte. Ein Gutes aber hatte die ganze Sache: Die Chasme ließen nach ihrem Paarungstanz immer viele Schätze zurück: Goldmünzen, Schmuckstücke, silberne Kelche, Edelsteine und ähnliches, die für das Werben um einen Partner mitgebracht worden waren. Auch heute hatte sie Glück und fand eine goldene Kette, ein paar Perlen und einen mit feinen, schimmernden Fäden durchwebten Gürtel.
Lass deine Feinde dich hassen, so lange sie dich fürchten. – Diesem Leitsatz folgten auf Torremor vor allem die Nabassu. Sie waren die Tanar’Ri, die Torremor beherrschten und am zahlreichsten bevölkerten. Als Kreezaxi von ihrer Beutetour zurück flog, zeichneten sich in der Ferne die Umrisse von Onstrakkers Nest ab, der riesigen Festung der Nabassu, die wie ein gigantisches Wespennest gebaut war. Die Harpyie wusste, dass im Inneren Keekaku, die Nährmutter der Nabassu saß und ständig neue dieser geflügelten Scheusale gebar. Sie hielt sich von den Nabassu fern, um nicht in Streit mit ihnen zu geraten. – Sie waren immerhin Tanar’Ri und konnten aus jedem absurden Grund einen Streit beginnen. Daher machte sie lieber immer einen weiten Bogen um Onstrakkers Nest, flog stattdessen zwischen den vielen Wasserfällen hindurch. Obwohl niemand wusste, woher es kam, gab es viel Wasser auf Torremor. Die einzelnen Quellen wanden sich über ein paar größere Felsspitzen, ehe sie sich weiter und immer weiter in die Tiefe stürzten. Das Licht auf Torremor war zwar trüb, aber noch stark genug, um dabei überall große Regenbogen entstehen zu lassen, wo sich das Wasser in die endlosen Tiefen stürzte. Tanar’Ri, die nur zu Besuch hierher kamen, spotteten oft über die bunten Lichterscheinungen, die sie nicht kannten. Doch Kreezaxi fand sie schön, wie die meisten Bewohner Torremors. Sie waren eben Teil ihrer Heimat.
Schlag nach den Augen, denn Blinde können nicht fliegen. - Fluchend wich Kreezaxi einem Netz aus dünnen Metalldrähten aus, so fein, dass sie es im trüben Zwielicht fast nicht bemerkt hätte. Die verdammten Drahtspanner! Sie waren ein grotesker Kult von Bittstellern und minderen Tanar’Ri, die glaubten, dass alle schwachen Flieger durch Fallen aus Drahtnetzen, Klingenpendeln und ähnlichem ausgerottet werden mussten. Pazrael, dem Dämonenprinzen von Torremor, schien der Kult egal zu sein, doch die höheren Tanar’Ri wie die Vrocks und die Succubi und die anderen fliegenden Bewohner Torremors jagten seine Mitglieder gnadenlos. Auch Kreezaxi hatte schon drei oder vier von diesen Verrückten auf dem Gewissen. Sie fühlte sich gut dabei. Diese Irren hatten es nicht besser verdient. Wer schlug, der wurde eben auch geschlagen. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte die Harpyie am Abend ihr Nest. Sie fand einen großen Rubin darin liegen und spürte wie ihr Herz schneller schlug. Sollte er von ihm sein? Sie hatte in den letzten Tagen immer wieder eine geflügelte, männliche Gestalt in der Nähe ihres Nestes erspäht. Jedoch war der Fremde nie näher gekommen und davon geflogen, wenn sie ihn erreichen wollte. Doch er schien keine feindlichen Absichten zu haben, beobachtete sie nur ... Vielleicht war es auch für sie an der Zeit, sich endlich zu paaren.
Die Jungen müssen fliegen oder fallen. – In der Nacht musste Kreezaxi daran denken, wie es sein würde, Eier zu legen, sie auszubrüten und Junge großzuziehen. Wie es wäre, wenn sie fliegen lernten. – Oder wenn eines von ihnen es nicht lernte. Es war bei den Harpyien Torremors üblich, ihre Jungen zu einer bestimmten Zeit aus dem Nest zu werfen. Wenn sie flogen, lebten sie. Wenn nicht ... Etwas zog sich in ihrem Inneren zusammen bei der Vorstellung, dass eines der Jungen es nicht schaffen könnte. Doch schnell schob sie den Gedanken beiseite. Ihre Küken würden stark sein! Sie würden fliegen, alle! Und falls nicht ... Nun, das würde sie dann sehen.



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