Eros und Thanatos
ein Vampir auf
Thanatos, 113. Schicht der Abyss
Madora lehnte sich in dem roten Ohrensessel zurück und ließ sich tief in die weichen Polster sinken. Sie blickte auf den reglosen Körper, der zu ihren Füßen lag, und auf die große Blutlache, die ihn umgab. Ein winziger Funken des Bedauerns regte sich in ihr. Immerhin hatte sie mehrere Jahrhunderte mit Eamon verbracht. Er hatte sie erschaffen. Letztlich jedoch war ihr Wunsch, sich von ihm zu lösen, stärker gewesen als ihre Zuneigung. Oder war es einfach nur Gewohnheit gewesen? Auf jeden Fall hatte sie frei sein wollen, ungebunden und Herrin ihrer eigenen Entscheidungen. Es geschah nicht oft, dass Vampire sich gegen ihre Meister und Erschaffer wandten, auch nicht hier auf Thanatos, der 113. Subebene der Abyss. Doch Ausnahmen gab es immer wieder und Madora bildete nun eine solche. Sie stand auf und durchquerte den großen Raum mit den stilvollen, dunklen Holzmöbeln und der hohen Gewölbedecke, von der mehrere reich bestückte Kerzenleuchter herabhingen. Den meisten ignoranten Lebenden war das nicht klar, aber Vampire liebten das Licht. Umso brennender, seit sie es nicht mehr sehen konnten. An einem der hohen, spitzbogigen Fenster blieb Madora stehen und ließ ihren Blick über Naratyr schweifen – Naratyr, die größte Nekropole von Thanatos, jener fast ausschließlich von Untoten bevölkerten Region der Abyss. Friedhöfe, Mausoleen, Krypten, Beinhäuser und Gräberfelder soweit das Auge reichte. Mal ragten nur verwitterte Grabsteine aus kalter, feuchter Erde, denen Skelette und Zombies entstiegen. Andernorts erhoben sich prachtvoll geschmückte Bauwerke, wie in den Städten der Lebenden die Villen der Reichen. Mit hohen Türmen, spitzbogigen, reich verzierten Fenstern und Fassaden, versehen mit grotesken Skulpturen, wirkten sie sowohl erhaben als auch einschüchternd. Hier lebten vor allem Vampire, Leichname, Todesfeen und vereinzelte Mumien, die intelligenten und mächtigen Untoten, die Thanatos beherrschten – natürlich erst nach Orcus, dem dunklen Fürsten der Subebene. Obgleich man in letzter Zeit wenig von dem Dämonenprinzen gehört hatte ... Gleich gegenüber des prunkvollen Anwesens, das Madora bewohnte, erhoben sich fünf mächtige Türme. Hinter dem dünnen Glas der atemberaubend schönen Fenster glühte ein giftgrünes Licht. Es waren die Fünf Türme der Verdammnis, die Residenz der mächtigsten Leichname Naratyrs. Ein großer Schwarm von Raben kreiste um die Turmspitzen und stieß heisere Schreie aus. Unter ihrem Fenster sah Madora einige Todesritter in schweren, schwarzen Rüstungen auf bleichen Pferdegerippen vorbei reiten.
Ein kühler Wind wehte durch das geöffnete Fenster herein, und obgleich die Vampirfrau keine Kälte spüren konnte, zog sie dennoch ihren schwarzen, mit Eisfuchsfellen gefütterten Mantel enger um ihre Schultern. Sie wandte sich vom Anblick des in der Dunkelheit schwach erleuchteten Naratyr ab und kehrte zu Eamons reglosem Körper zurück. Sie musste ihn fortschaffen und dachte nach, welcher Ort am besten geeignet wäre. Am Ende entschied sie, ihn von den Ghulen fressen zu lassen, die die unteren Gewölbe des Anwesens bewohnten. Besser keine Spuren hinterlassen. Zwar war ihr alter Mentor bei den übrigen Vampiren Naratyrs nicht allzu beliebt gewesen und es stand daher nicht zu befürchten, dass jemand genauer nach seinem Verschwinden forschte, aber Madora wollte kein Risiko eingehen. Sie befahl zwei Skelette herein, die vor dem Saal Wache standen und wies sie an, Eamons Körper nach unten zu den Ghulen zu bringen. Da keiner der untoten Diener in der Vampirvilla intelligent war, musste sie sich über mögliche Zeugen keine Gedanken machen. Sobald die Skelette verschwunden waren, eilte sie durch mehrere lange Korridore zum Ausgang. Keiner der großen Spiegel an den Wänden verriet ihr Vorbeikommen. Obgleich sie sicher gewesen war, den Mord an Eamon nicht zu bedauern, überkam sie nun doch ein ungutes, unwillkommenes Gefühl. Reue? Gar Trauer? Sie war nicht sicher, es lag lang zurück, dass sie so empfunden hatte. Vielleicht sogar jenseits ihrer untoten Existenz. Erinnerungen stiegen in ihr hoch ...
... Sie war im Alter von neun Jahren nach Thanatos gekommen. Ein Vampir hatte ihre Mutter zu seiner Gespielin gemacht, doch sie hatte sich geweigert, ihre kleine Tochter aufzugeben und im Stich zu lassen. Eine merkwürdige Vorstellung, aber der Vampir musste ihre Mutter wirklich geliebt haben, denn er hatte ihr gestattet, sie mitzunehmen. Als Kind in der Abyss aufzuwachsen, in einer von Skeletten und Ghulen bewachten Vampirvilla, in einer Stadt voller Leichname, Geister und Zombies ... Es war nicht das gewesen, was Eltern sich für ihre Nachkommen in der Regel wünschten, doch immerhin hatte sie überlebt und war zu einer jungen Frau herangewachsen. Dann war sie Eamon begegnet und wie ihre Mutter hatte sie einen Mentor, Schöpfer und Geliebten gefunden. Für mehrere Jahrhunderte war es gut so gewesen. Doch alles änderte sich eben irgendwann ...
Sie verließ das prachtvolle Anwesen und trat in die kalten Straßen Naratyrs. Der blasse Geist eines jungen Mädchen schwebte an ihr vorbei ohne sie zu beachten oder wahrzunehmen. Für einen kurzen Augenblick sah sie sich selbst, wie sie hätte enden können, wenn die Liebe ihrer Mutter nicht stärker gewesen wäre als der Untod. Ihre Mutter ... Sie hatte Thanatos eines Tages verlassen und war fortgegangen. Eine Todesfee, die sie kannte, hatte behauptet, nach Sigil. Ob sie noch dort war? Sollte sie nach ihr suchen? Wieder ließ Madora ihren Blick lange über die schwarzen Kuppeln Naratyrs gleiten, über die bleichen Grabsteine und die krächzenden Rabenschwärme. In dieser Nacht hatte sich viel geändert. Vielleicht war es an der Zeit, neue Wege zu gehen ...



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